„Ich hasse es hier“ brüllte Amalie.
„Dann geh doch, wenn es dir nicht passt“ sagt ihr Vater gelassen.
Wütend schlug sie die Tür ihres Kinderzimmers hinter sich
zu. Sie legte sich auf ihr Bett und weinte in ihr Kissen. Das tat sie immer,
wenn sie wütend oder traurig war. Meistens war sie beides gleichzeitig. Sie
wurde wütend und vor lauter Wut muss sie weinen und dann wurde sie traurig,
weil sie gar nicht wütend sein wollte. Doch nicht auf ihren Vater, der so viel
Gutes für sie getan hatte, mehr auf sich selbst. Ihr Vater verstand sie
manchmal einfach nicht. So wie heute. Vielleicht lag es daran, weil er ein Mann
war. Oder sie ein Mädchen. Oder weil sie, wie er sagte, überreagierte. Egal
woran es lag, diesmal hat Amalie einen Entschluss gefasst. Sie würde weg gehen.
Auch wenn es nur für ein Wochenende war. Die Frage, die sich allerdings stellte
war: Wohin sollte sie gehen?
Einige Stunden nach dem sie sich beruhigt hatte, schrieb sie mit ein paar Freunden in Leipzig, die sie in einem Chatforum kennengelernt hatte. Amalie erzählte ihnen von ihrem Streit mit ihrem Vater und sie luden sie spontan nach Leipzig ein. Dort wollen sie eine Überraschungs-Geburtstagparty für einen Freund veranstalten. „Komm doch, das wird lustig! Du wärst der Überraschungsgast! Er würde niemals damit rechnen, dass du von … woher kommst du nochmal? Ach egal, das du eben vom anderen Ende Deutschlands anreist!“ Also war die Sache beschlossen. Amalie kannte diesen Freund schließlich auch und mochte ihn sehr. So sehr wie man eben jemanden aus dem Internet, denn man vorher noch nie gesehen hat, mögen konnte. Jedoch war Amalie nicht naiv oder dumm, sie hatte schon mit besagten Freunden telefoniert und auch bei MSN gecamt. Also war er kein alter Mann. Außer er hatte es gefälscht. Diesen Gedanken schob sie jedoch schnell zur Seite – wird schon alles gut gehen! Und wie konnte man sein Aussehen fälschen? Sie kaufte sich also am drauffolgenden Wochenende ein Zugticket nach Leipzig. Das ging trotz ihres Alters von 13 Jahren problemlos am Bahnhof selbst. Ihrem Vater sagte sie nichts davon. Der meinte, sie wäre das Wochenende über bei einer Freundin. Woher sie das Geld für das Zugticket hatte? Taschengeld. Und von ihrem Vater geklaut. Darauf war sie nicht stolz, denn sie hatte es das erste Mal getan. Aber ihr Vater hatte ihr nicht erlaubt, alleine nach Leipzig zu fahren um fremde Menschen aus dem Internet zu treffen. Sie hatte ihn gefragt, aber es sofort bereut. Das ganze hörte sich ja auch, zugegeben, etwas verrückt und vor allem riskant an. Aber sie wollte ein Abenteuer erleben. Sie hielt es Zuhause nicht mehr aus. Also stieg sie in den Zug und war in knapp 5 Stunden in Leipzig. Amalie, das erste Mal allein auf Reisen, stand verloren am Gleis und versuchte sich zu erinnern. „Wir halten ein Schild mit deinem Usernamen hoch, dann erkennst du uns“, hatten sie gesagt. Sie suchte das Schild in der Menge und da standen sie tatsächlich. Ihre Freunde aus dem Internet! Das große Mädchen mit dem lila Jack aus „Nightmare before Christmas“ im Haar und das etwas kleinere Mädchen mit den roten Strähnen und den Piercings im Gesicht. Sie begrüßten und umarmten sich wie alte Freunde und das Wochenende konnte beginnen! Alles war neu und aufregend, Leipzig war so groß, im Bahnhof konnte man richtig shoppen gehen, gerade war Weihnachtsmarkt und es lag so viel Liebe und Glück in der Luft. Alle verstanden sich hervorragend, die Überraschungs- Geburtstagsparty war geglückt, sie übernachtenden bei einem Freund in einem großen Matratzenlager, tranken Bier und hatten Spaß. Amalie war glücklich und vergaß ihre Sorgen. Am nächsten Tag hieß es jedoch wieder Abschied nehmen. Da sie jedoch keinen Cent mehr hatte, zahlten ihre Freunde das Zugticket für sie zurück nach Hause. Darüber hatte sich Amalie vorher überhaupt keine Gedanken gemacht! Also war sie wohl doch naiv gewesen. Aber mit einem Schöne-Wochenend-Ticket schaffte sie es trotzdem nach Hause und konnte ihr Glück nicht fassen.
Aufgrund von Zugverspätungen kam sie viel zu spät am Abend Zuhause an. Ihr Vater hatte sich Sorgen gemacht und ihre Freundin angerufen. Als diese jedoch sagte, Amalie wäre nie da gewesen, war die Sorge groß. Dabei hatte Amalie ihrer Freundin eine Nachricht geschrieben, sie solle ihr Alibi sein. Doch ihre Freundin konnte ihren Vater am Telefon nicht anlügen und hatte gestanden, denn sie selbst machte sich nun auch Sorgen um Amalie. Die Strafe ihres Vaters? Es gab keine richtige. Nur ein enttäuschter Vater, der eine Woche lang nicht mit seiner Tochter redete. Und eine Tante, die dem Mädchen klar machte, wie enttäuscht ihr Vater sei und wie viele Sorgen er sich gemacht habe. Doch das war die größte Strafe die sich Amalie je vorstellen konnte - ihren herzensguten Vater zu enttäuschen, traurig zu machen und eine Woche lang von ihm ignoriert zu werden. Deshalb sagte sie ihn von da an immer, wann sie wo war und log ihn nie wieder an.
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