„Ihren Ausweis bitte. Passport, ID please“, sagt die Schaffnerin.
Der Mann antwortet: „In Deutsch bitte. Hier ist er."
Ich beobachte die Szene. Die Stimmlage. Die Körperhaltung
der beiden Personen.
Die Schaffnerin hat einen aggressiven Unterton.
Vielleicht ist sie genervt. Von was kann ich nicht genau sagen – vielleicht von
ihrem Job? An einem Samstag Morgen arbeiten zu müssen? Oder von dem Fakt, dass
diese Situation, in der sie gerade ist, öfter vorkommt.
Der Mann, dunkle Haut, Sonnenbrille, spricht perfektes
Deutsch.
Ich höre aus dem weiteren Gespräch heraus, dass er zuvor in
der 1. Klasse war. Anhand seines Bahntickets darf er das allerdings nicht.
Unabhängig von diesem Fakt, ist mir sofort aufgefallen, in
welchem Ton der Mann „auf Deutsch bitte“ gesagt hat. Ebenfalls genervt und leicht aggressiv.
Als Beobachterin mit thailändischen, polnischen und deutschen Wurzeln,
als Reisende und als Mensch sehe ich so vieles in dieser Situation. Ich sehe
den unterschwelligen Rassismus. Ich sehe jedoch auch, dass die
Bahnmitarbeiterin jeden Tag mit Touristen und Ausländern zu tun hat – das
gehört zu ihrem Job. Ich sehe die Erfahrung des Mannes, als nicht Deutsch
angesehen zu werden aufgrund seiner Hautfarbe. Unabhängig des Faktes ob er anhand
des Tickets nun in der 1. oder 2. Klasse sein durfte oder nicht, ist es die
perfekte Metapher, die mir das wahre Leben an diesem Samstagmorgen bietet, um
diesen Text zu schreiben.
Denn es ist Fakt, dass Menschen mit anderer Hautfarbe,
anderer Herkunft, anderer Religion auch anders behandelt werden – wie Menschen
zweiter Klasse. Statistisch gesehen werden sie benachteiligt, haben weniger
Chancen, schwierigere Voraussetzungen, werden öfter ver- und beurteilt, in
einer Welt voller weißen privilegierten Menschen, die basierend auf dem
Kolonalismus, leider immer noch, selbst im Jahr 2023, andere Menschen im sogenanten globalen Süden ausbeuten –
bewusst oder unbewusst. Rassismus ist ein System. Es ist in allen von uns, die
in diesem System aufwachsen und sozialisiert werden, egal welche Hautfarbe oder
Religion man hat oder woher man denn genau kommt. Deswegen ist es auch umso
wichtiger, dieses System zu hinterfragen. Sich selbst immer wieder zu
hinterfragen.
Aus diesem Grund und tausend weiteren habe ich zusammen mit
meiner Freundin Joy das „BIPOC Wohnzimmer“ gegründet. Eine Whats App Gruppe für
Menschen, die Rassismus Erfahrungen gemacht haben und einen Safe Space suchen,
andere BIPOCs kennenlernen möchten und sich eine Community wünschen. Allys sind
auch willkommen und brauchen wir! Menschen, die lernen möchten anti-rassistisch
zu sein, denn ja, das MUSS man lernen! Auch ich. Immer wieder. Es hört nie auf.
Am Freitag war unser erstes online Meet-Up und es war einfach nur wundervoll.
Meine Erwartungen wurden übertroffen. Bisher sind wir eine super angenehme, interessante,
respektvolle Gruppe. Jeder von uns hat so viel Wissen, das er teilen
möchte, Geschichten zu erzählen und Gaben die er in die Gruppe miteinbringen
darf und kann und soll!
Die Idee zu dieser Whats App Gruppe hatte ich im Januar 2023, als
ich in Tarifa einen Mann traf, der äthiopische, eritreische und deutscheWurzeln hat und der mich an meinen Kindheitsfreund erinnerte, der ebenfalls
Schwarz ist. Vor kurzem traf ich genau diesen Kindheitsfreund am Hauptbahnhof
wieder, freute mich unendlich ihn zu sehen, denn immer mal wieder denke ich an
ihn. Ich denke auch an einen anderen Schwarzen aus dem Dorf der nun Rapper ist und an meine asiatischen Kindheits Freundinnen, die adoptiert sind. Meine eine Freundin war aus Kambodscha, hatte
dunkle Haut und ihre Schwester, mit heller Haut, war aus China (glaube ich jedenfalls, sorry falls es jemand lesen sollte, der weiß von wem
ich schreibe und es nicht stimmt. Bitte kontaktiert mich um es zu korrigieren).
Was ich damit sagen möchte ist: ich komme aus einem Dorf und
bin mit anderen BIPOCs aufgewachsen. Ich komme aus einem Dorf, in dem die
anderen BIPOCs meine Freunde und Freundinnen waren, ohne das uns bewusst war,
warum wir anders sind. Wir waren Kinder und natürlich auch mit weißen
Personen befreundet, doch zwischen uns BIPOCs war immer etwas Besonderes. Wir sahen uns einfach an und wussten, dass wir besonders sind. In der Grundschule habe ich übrigens zero Rassismus erfahren, erst als ich auf die weiter führende Schule kam, fing es an mit "Ching Chang Chong" und "Schlitzauge".
Ich erinnere mich außerdem an die Mütter dieser BIPOC
Kinder. An Nathalie, die Mutter meines Schwarzen Freundes. Falls du das hier
lesen solltest: DANKE! Danke, dass du so eine tolle Mutter für deine Söhne bist
und danke, dass du für mich und meine Geschwister eine von vielen Müttern
warst. Denn Nathalie war nicht alleine. Es gibt diesen Spruch „Ein braucht ein
ganzes Dorf um ein Kind zu erziehen“. Ich hatte viele Mütter in meinem Leben
und Nathalie war eine davon. Sie hat mich darauf hingewiesen, dass das N*Wort
ein absolutes No-Go ist, denn bei einem Streit habe ich es tatsächlich mal
gegen meinen Schwarzen Freund verwendet. Nachdem Nathalie, die Löwenmutter,
mich darauf hingewiesen hatte, habe ich es seitdem nie wieder in den Mund
genommen. Ich hatte Angst vor ihr, das hat gewirkt und natürlich weiß ich nun
als Erwachsene, wie viel Emotionen, Rassismus und Geschichte, hinter diesem
Wort steckt. Deswegen nochmal: Danke Nathalie, dass du so eine Löwenmutter
bist!
Was meine ich damit, wenn ich sage, ich hatte viele Mütter?
Dadurch, dass mich meine Mutter als ich 10 Jahre alt war
verlassen hat, habe ich meine leibliche Mutter verloren. Allerdings habe ich
dadurch ganz viele tolle Mütter gefunden und durch sie erfahren, was
Mutterliebe ist, auch wenn ich nie das „eigene“ Kind von ihnen war. Ich habe
mich tatsächlich oft als Kuckuckskind gefühlt und bezeichnet.
Ich hatte eine Mutter, die war und ist meines Wissens bis
heute, bei den Liebzeller Christen. Ich war mit ihrer Tochter befreundet, die
leider letztes Jahr verstorben ist. Mein Herz kann den Schmerz immer noch nicht
begreifen bzw. wird es auch nie, denn ich bin (noch) keine Mutter und weiß
nicht, wie es sich anfühlt ein geliebtes Kind zu verlieren. Esther, falls du
diese Worte hier lesen solltest, wisse, dass ich dich immer als Mutter ansehen
werde. Weil du mir nicht nur die Liebe zu Gott näher gebracht hast, sondern
auch die Nächstenliebe. Esther war einer der wenigen Freunde, die meine Mutter
in Deutschland hatte. Esther hat ihr geholfen mit uns, mir und meinen drei
Geschwistern zurecht zu kommen. Danke Esther für deine Liebe meiner Familie
gegenüber. Ich werde sie immer in meinem Herzen haben.
Ich hatte außerdem eine Mutter, die nenne ich mit einem Schmunzeln
„meine Sekten Mutti“. Sie war bei den Zeugen Jehovas und später im
Religionsunterricht, habe ich gelernt, dass das eine Sekte ist und die Menschen
dort „schlecht“. Meine Sekten Mutti war’s allerdings nicht. Meine Sekten Mutti
war liebevoll und einfühlsam. Auch mit ihren Kindern war ich befreundet, ich
verbrachte viel Zeit mit ihnen, aß bei ihnen und niemals wollten sie mich bekehren
oder sonstige negative Sekten artige Dinge mit mir tun (was auch immer diese
Dinge sein sollen). Einmal hat sie mich mit genommen in ihr Gemeindehaus, weil
ich es wollte, weil ich neugierig war. Ich kann mich nicht mehr an viel
erinnern, außer das eine positive Erfahrung war. Auch diese Mutter, dessen
Namen ich leider nicht mehr weiß, bin ich bis heute dankbar für ihre
Mutterliebe. Sie tröstete mich, wenn ich nachts weinte, weil ich meine
leibliche Mutter vermisste. Sie wärmte mich und wiegte mich in den Schlaf.
Mit 16 Jahren trat dann eine weitere Mutter in mein Leben –
die Mutter meines Exfreundes, mit dem ich 10 Jahre zusammen war (2009 - 2019). Als wir uns
trennten, fühlte es sich auch so an, als würde ich mich von seiner Familie und
vor allem von seiner Mutter und Schwester trennen, mit denen ich ein sehr gutes
Verhältnis hatte. Jetzt gerade trage ich mein liebstes Erinnerungsstück an
diese Mutter – Gabi, falls du dies hier lesen solltest, deine Softshell Jacke
lebt noch und wird gerne und oft von mir getragen – egal wo auf der Welt. Gabi
ist eine Nähgöttin und eine Power Frau wie man so schön sagt und hat mich von
allen Müttern wohl am meisten geprägt. Immerhin hatten wir 10 Jahre lang eine
Beziehung, durch ihren Sohn. Ich war diejenige, die ihren Sohn außerdem immer
an den Muttertag erinnert hat, haha. Wahrscheinlich weil ich eben keine Mutter
hier in Deutschland habe, mit der ich ihn verbringen kann. Ich bin auch ihr
zutiefst dankbar, was sie mich über Mutterliebe gelernt hat und vor allem auch
über das Frau sein. Frau sein für sich, Frau sein in einer Beziehung und in
einer Familie.
Im BIPOC Wohnzimmer gibt es auch tolle Frauen und Mütter.
Eine Mutter davon hat drei BIPOC Söhne – schwarz sind sie und bin ich mir
sicher, auch sie ist eine Löwenmutter wie Nathalie. Ansonsten wäre sie wohl
nicht in unserer Gruppe gelandet. Auch meine jüngere Schwester ist Mutter von
einem BIPOC Sohn – mein Neffe hat thailändische, polnische und deutsche
Wurzeln. In einer Welt, in der sich immer mehr Menschen und Kulturen
vermischen, privat, geschäftlich, in welcher Art auch immer, ist es da nicht
absurd, dass wir uns aufgrund dieser „Andersartigkeit“ diskriminieren?
Ausgrenzen? Was können wir also dagegen tun?
Wir können anfangen zu lieben. Denn nur Liebe besiegt Hass.
Und wo fängt diese Liebe an?
Bei unseren Müttern.
Bei Müttern wie Nathalie, die einem Deutsch-Thai Mädchen
erklärt, warum das N* Wort nicht in Ordnung ist.
Bei Müttern wie Esther, die einer Thailändischen Mutter
hilft, ihren Alltag zu meistern.
Bei „Sekten Muttis“, die eine Tochter einer anderen Mutter,
tröstet, weil diese gerade nicht da ist.
Bei Müttern wie Gabi, die einer Jugendlichen Frau
dabei unterstützt, sich selbst zu finden.
Ich finde es aufgrund meiner Geschichte so unglaublich
wichtig, dankbar zu sein für seine Mutter. Auch wenn die Beziehung nicht immer
einfach ist. Mütter sind auch nur Frauen, Menschen mit Gefühlen und Gedanken,
Traumatas, Jobs, Stress. Ich habe meiner Mutter verziehen, dass sie uns
verlassen hat, weil ich genau das erkannt habe. Das sie aufgrund ihrer
persönlichen Geschichte und Problemen, nicht für uns da sein konnte. Und das
ist okay. Es rechtfertigt es nicht, doch ich habe die jahrelange Wut auf meine
Mutter losgelassen und transformiert. Ich weiß warum meine Mutter diese
Probleme hatte – sie selbst hat keine Mutterliebe erfahren. Meine Oma in
Thailand hatte nämlich wiederum ihre Probleme und auch das System in Thailand war keine große Hilfe (z. B. in Form von Therapie). Es ist ein Teufelskreis, den ich
brechen darf, denn auch meine deutsch-polnische Ahnenlinie ist geprägt von
dieser sogenannten Mutterwunde. Jahrelang dachte ich deswegen, dass ich selbst
nie Mutter eines menschlichen Wesens werden möchte. Ich sagte mir, dass ich für
immer Hunde- oder Katzenmama bleiben werde, doch eigene Kinder? Nein danke.
Dieses Jahr bin ich 30 Jahre alt geworden und vor kurzem
habe ich jemanden kennengelernt, nach 4 Jahre Dating Chaos, und plötzlich denke ich mir : Oh Kinder, vielleicht doch gar nicht so schlimm…
Denn ich bin ja nicht meine Mutter und ich durchbreche den
Teufelskreis.
In diesem Sinne,
Danke an alle Mütter dieser Welt, Hautfarben, Herkünften und
Religionen für eure Liebe.
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