14.05.2023

Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf - afrikanisches Sprichwort

„Ihren Ausweis bitte. Passport, ID please“, sagt die Schaffnerin.
Der Mann antwortet: „In Deutsch bitte. Hier ist er."
Ich beobachte die Szene. Die Stimmlage. Die Körperhaltung der beiden Personen.
Die Schaffnerin hat einen aggressiven Unterton. Vielleicht ist sie genervt. Von was kann ich nicht genau sagen – vielleicht von ihrem Job? An einem Samstag Morgen arbeiten zu müssen? Oder von dem Fakt, dass diese Situation, in der sie gerade ist, öfter vorkommt.
Der Mann, dunkle Haut, Sonnenbrille, spricht perfektes Deutsch.
Ich höre aus dem weiteren Gespräch heraus, dass er zuvor in der 1. Klasse war. Anhand seines Bahntickets darf er das allerdings nicht.
Unabhängig von diesem Fakt, ist mir sofort aufgefallen, in welchem Ton der Mann „auf Deutsch bitte“ gesagt hat. Ebenfalls genervt und leicht aggressiv.
 
Als Beobachterin mit thailändischen, polnischen und deutschen Wurzeln, als Reisende und als Mensch sehe ich so vieles in dieser Situation. Ich sehe den unterschwelligen Rassismus. Ich sehe jedoch auch, dass die Bahnmitarbeiterin jeden Tag mit Touristen und Ausländern zu tun hat – das gehört zu ihrem Job. Ich sehe die Erfahrung des Mannes, als nicht Deutsch angesehen zu werden aufgrund seiner Hautfarbe. Unabhängig des Faktes ob er anhand des Tickets nun in der 1. oder 2. Klasse sein durfte oder nicht, ist es die perfekte Metapher, die mir das wahre Leben an diesem Samstagmorgen bietet, um diesen Text zu schreiben.
 
Denn es ist Fakt, dass Menschen mit anderer Hautfarbe, anderer Herkunft, anderer Religion auch anders behandelt werden – wie Menschen zweiter Klasse. Statistisch gesehen werden sie benachteiligt, haben weniger Chancen, schwierigere Voraussetzungen, werden öfter ver- und beurteilt, in einer Welt voller weißen privilegierten Menschen, die basierend auf dem Kolonalismus, leider immer noch, selbst im Jahr 2023, andere Menschen im sogenanten globalen Süden ausbeuten – bewusst oder unbewusst. Rassismus ist ein System. Es ist in allen von uns, die in diesem System aufwachsen und sozialisiert werden, egal welche Hautfarbe oder Religion man hat oder woher man denn genau kommt. Deswegen ist es auch umso wichtiger, dieses System zu hinterfragen. Sich selbst immer wieder zu hinterfragen.
 
Aus diesem Grund und tausend weiteren habe ich zusammen mit meiner Freundin Joy das „BIPOC Wohnzimmer“ gegründet. Eine Whats App Gruppe für Menschen, die Rassismus Erfahrungen gemacht haben und einen Safe Space suchen, andere BIPOCs kennenlernen möchten und sich eine Community wünschen. Allys sind auch willkommen und brauchen wir! Menschen, die lernen möchten anti-rassistisch zu sein, denn ja, das MUSS man lernen! Auch ich. Immer wieder. Es hört nie auf. Am Freitag war unser erstes online Meet-Up und es war einfach nur wundervoll. Meine Erwartungen wurden übertroffen. Bisher sind wir eine super angenehme, interessante, respektvolle Gruppe. Jeder von uns hat so viel Wissen, das er teilen möchte, Geschichten zu erzählen und Gaben die er in die Gruppe miteinbringen darf und kann und soll! 
 

Die Idee zu dieser Whats App Gruppe hatte ich im Januar 2023, als ich in Tarifa einen Mann traf, der äthiopische, eritreische und deutscheWurzeln hat und der mich an meinen Kindheitsfreund erinnerte, der ebenfalls Schwarz ist. Vor kurzem traf ich genau diesen Kindheitsfreund am Hauptbahnhof wieder, freute mich unendlich ihn zu sehen, denn immer mal wieder denke ich an ihn. Ich denke auch an einen anderen Schwarzen aus dem Dorf der nun Rapper ist und an meine asiatischen Kindheits Freundinnen, die adoptiert sind. Meine eine Freundin war aus Kambodscha, hatte dunkle Haut und ihre Schwester, mit heller Haut, war aus China (glaube ich jedenfalls, sorry falls es jemand lesen sollte, der weiß von wem ich schreibe und es nicht stimmt. Bitte kontaktiert mich um es zu korrigieren).
 
Was ich damit sagen möchte ist: ich komme aus einem Dorf und bin mit anderen BIPOCs aufgewachsen. Ich komme aus einem Dorf, in dem die anderen BIPOCs meine Freunde und Freundinnen waren, ohne das uns bewusst war, warum wir anders sind. Wir waren Kinder und natürlich auch mit weißen Personen befreundet, doch zwischen uns BIPOCs war immer etwas Besonderes. Wir sahen uns einfach an und wussten, dass wir besonders sind. In der Grundschule habe ich übrigens zero Rassismus erfahren, erst als ich auf die weiter führende Schule kam, fing es an mit "Ching Chang Chong" und "Schlitzauge".
 
 
Ich erinnere mich außerdem an die Mütter dieser BIPOC Kinder. An Nathalie, die Mutter meines Schwarzen Freundes. Falls du das hier lesen solltest: DANKE! Danke, dass du so eine tolle Mutter für deine Söhne bist und danke, dass du für mich und meine Geschwister eine von vielen Müttern warst. Denn Nathalie war nicht alleine. Es gibt diesen Spruch „Ein braucht ein ganzes Dorf um ein Kind zu erziehen“. Ich hatte viele Mütter in meinem Leben und Nathalie war eine davon. Sie hat mich darauf hingewiesen, dass das N*Wort ein absolutes No-Go ist, denn bei einem Streit habe ich es tatsächlich mal gegen meinen Schwarzen Freund verwendet. Nachdem Nathalie, die Löwenmutter, mich darauf hingewiesen hatte, habe ich es seitdem nie wieder in den Mund genommen. Ich hatte Angst vor ihr, das hat gewirkt und natürlich weiß ich nun als Erwachsene, wie viel Emotionen, Rassismus und Geschichte, hinter diesem Wort steckt. Deswegen nochmal: Danke Nathalie, dass du so eine Löwenmutter bist!

Was meine ich damit, wenn ich sage, ich hatte viele Mütter?

Dadurch, dass mich meine Mutter als ich 10 Jahre alt war verlassen hat, habe ich meine leibliche Mutter verloren. Allerdings habe ich dadurch ganz viele tolle Mütter gefunden und durch sie erfahren, was Mutterliebe ist, auch wenn ich nie das „eigene“ Kind von ihnen war. Ich habe mich tatsächlich oft als Kuckuckskind gefühlt und bezeichnet.

Ich hatte eine Mutter, die war und ist meines Wissens bis heute, bei den Liebzeller Christen. Ich war mit ihrer Tochter befreundet, die leider letztes Jahr verstorben ist. Mein Herz kann den Schmerz immer noch nicht begreifen bzw. wird es auch nie, denn ich bin (noch) keine Mutter und weiß nicht, wie es sich anfühlt ein geliebtes Kind zu verlieren. Esther, falls du diese Worte hier lesen solltest, wisse, dass ich dich immer als Mutter ansehen werde. Weil du mir nicht nur die Liebe zu Gott näher gebracht hast, sondern auch die Nächstenliebe. Esther war einer der wenigen Freunde, die meine Mutter in Deutschland hatte. Esther hat ihr geholfen mit uns, mir und meinen drei Geschwistern zurecht zu kommen. Danke Esther für deine Liebe meiner Familie gegenüber. Ich werde sie immer in meinem Herzen haben.

Ich hatte außerdem eine Mutter, die nenne ich mit einem Schmunzeln „meine Sekten Mutti“. Sie war bei den Zeugen Jehovas und später im Religionsunterricht, habe ich gelernt, dass das eine Sekte ist und die Menschen dort „schlecht“. Meine Sekten Mutti war’s allerdings nicht. Meine Sekten Mutti war liebevoll und einfühlsam. Auch mit ihren Kindern war ich befreundet, ich verbrachte viel Zeit mit ihnen, aß bei ihnen und niemals wollten sie mich bekehren oder sonstige negative Sekten artige Dinge mit mir tun (was auch immer diese Dinge sein sollen). Einmal hat sie mich mit genommen in ihr Gemeindehaus, weil ich es wollte, weil ich neugierig war. Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern, außer das eine positive Erfahrung war. Auch diese Mutter, dessen Namen ich leider nicht mehr weiß, bin ich bis heute dankbar für ihre Mutterliebe. Sie tröstete mich, wenn ich nachts weinte, weil ich meine leibliche Mutter vermisste. Sie wärmte mich und wiegte mich in den Schlaf.

Mit 16 Jahren trat dann eine weitere Mutter in mein Leben – die Mutter meines Exfreundes, mit dem ich 10 Jahre zusammen war (2009 - 2019). Als wir uns trennten, fühlte es sich auch so an, als würde ich mich von seiner Familie und vor allem von seiner Mutter und Schwester trennen, mit denen ich ein sehr gutes Verhältnis hatte. Jetzt gerade trage ich mein liebstes Erinnerungsstück an diese Mutter – Gabi, falls du dies hier lesen solltest, deine Softshell Jacke lebt noch und wird gerne und oft von mir getragen – egal wo auf der Welt. Gabi ist eine Nähgöttin und eine Power Frau wie man so schön sagt und hat mich von allen Müttern wohl am meisten geprägt. Immerhin hatten wir 10 Jahre lang eine Beziehung, durch ihren Sohn. Ich war diejenige, die ihren Sohn außerdem immer an den Muttertag erinnert hat, haha. Wahrscheinlich weil ich eben keine Mutter hier in Deutschland habe, mit der ich ihn verbringen kann. Ich bin auch ihr zutiefst dankbar, was sie mich über Mutterliebe gelernt hat und vor allem auch über das Frau sein. Frau sein für sich, Frau sein in einer Beziehung und in einer Familie.

Im BIPOC Wohnzimmer gibt es auch tolle Frauen und Mütter. Eine Mutter davon hat drei BIPOC Söhne – schwarz sind sie und bin ich mir sicher, auch sie ist eine Löwenmutter wie Nathalie. Ansonsten wäre sie wohl nicht in unserer Gruppe gelandet. Auch meine jüngere Schwester ist Mutter von einem BIPOC Sohn – mein Neffe hat thailändische, polnische und deutsche Wurzeln. In einer Welt, in der sich immer mehr Menschen und Kulturen vermischen, privat, geschäftlich, in welcher Art auch immer, ist es da nicht absurd, dass wir uns aufgrund dieser „Andersartigkeit“ diskriminieren? Ausgrenzen? Was können wir also dagegen tun?

Wir können anfangen zu lieben. Denn nur Liebe besiegt Hass.

Und wo fängt diese Liebe an?

Bei unseren Müttern.

Bei Müttern wie Nathalie, die einem Deutsch-Thai Mädchen erklärt, warum das N* Wort nicht in Ordnung ist.

Bei Müttern wie Esther, die einer Thailändischen Mutter hilft, ihren Alltag zu meistern.

Bei „Sekten Muttis“, die eine Tochter einer anderen Mutter, tröstet, weil diese gerade nicht da ist.

Bei Müttern wie Gabi, die einer Jugendlichen Frau dabei unterstützt, sich selbst zu finden.

Ich finde es aufgrund meiner Geschichte so unglaublich wichtig, dankbar zu sein für seine Mutter. Auch wenn die Beziehung nicht immer einfach ist. Mütter sind auch nur Frauen, Menschen mit Gefühlen und Gedanken, Traumatas, Jobs, Stress. Ich habe meiner Mutter verziehen, dass sie uns verlassen hat, weil ich genau das erkannt habe. Das sie aufgrund ihrer persönlichen Geschichte und Problemen, nicht für uns da sein konnte. Und das ist okay. Es rechtfertigt es nicht, doch ich habe die jahrelange Wut auf meine Mutter losgelassen und transformiert. Ich weiß warum meine Mutter diese Probleme hatte – sie selbst hat keine Mutterliebe erfahren. Meine Oma in Thailand hatte nämlich wiederum ihre Probleme und auch das System in Thailand war keine große Hilfe (z. B. in Form von Therapie). Es ist ein Teufelskreis, den ich brechen darf, denn auch meine deutsch-polnische Ahnenlinie ist geprägt von dieser sogenannten Mutterwunde. Jahrelang dachte ich deswegen, dass ich selbst nie Mutter eines menschlichen Wesens werden möchte. Ich sagte mir, dass ich für immer Hunde- oder Katzenmama bleiben werde, doch eigene Kinder? Nein danke.

Dieses Jahr bin ich 30 Jahre alt geworden und vor kurzem habe ich jemanden kennengelernt, nach 4 Jahre Dating Chaos, und plötzlich denke ich mir : Oh Kinder, vielleicht doch gar nicht so schlimm…

Denn ich bin ja nicht meine Mutter und ich durchbreche den Teufelskreis.

In diesem Sinne,

Danke an alle Mütter dieser Welt, Hautfarben, Herkünften und Religionen für eure Liebe.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wenn du ein Kommentar hinterlässt, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google. Mit dem Abschicken deines Kommentars bestätigst du, dass du die Datenschutzerklärungen gelesen und akzeptiert hast.

Wenn Du die Kommentare zu diesem Beitrag durch Setzen des Häkchens abonnierst, informiert Dich Google durch eine Mail an die in Deinem Googleprofil hinterlegte Mail-Adresse. Durch Entfernen des Hakens löscht Du Dein Abonnement wieder. Du hast aber auch die Möglichkeit Dich in der Mail, die Dich über einen neuen Kommentar informiert, über einen Link wieder abzumelden.