26.11.2017

a special travel story: Heimat by Niclas Eckert

Heute habe ich eine ganz besondere Travel Story für euch. Zum ersten Mal habe ich sie nicht selbst geschrieben, denn mein Klassenkamerad Niclas hat mir freundlicherweise erlaubt, seine Geschichte hier zu veröffentlichen. Er hat sie anlässlich des Prosapreis für Jugendliteratur der im Juli in Karlsruhe im Rahmen der Heimattage 2017 vergeben wurde geschrieben und dabei den 1. Platz gewonnen! Ich kann stolz behaupten, dass ich ihn sogar dazu animiert habe mitzumachen, da ich selbst aufgrund meines Alters nicht mehr teilnehmen durfte (ich war das erste Mal für etwas zu alt anstatt zu jung - lol). Aber auch ohne den Preis, hat es seine Geschichte verdient erzählt zu werden. Ihr glaubt mir nicht? Überzeugt euch einfach selbst...

Meine Heimat brennt.
Alles, was ich mir aufgebaut hatte zerbarst unter der tödlichen Wucht der fallenden Bomben, wurde zersiebt von dem Maschinengewehrhagel und erstickt vom Giftgasnebel. Mir blieb nichts mehr, man hatte mir alles genommen. »Kämpfen? Kämpfen! Für wen denn? Die Regierung? Die Rebellen? Die Protestanten?« »Gegen diejenigen, die dir alles nahmen!«, hatten meine Freunde gesagt. Mit funkelndem Hass in ihren Augen und den Waffen in ihren Händen. Die Mordinstrumente zum Spielen der Symphonie des Krieges, der Rache, der selbsterklärten Gerechtigkeit. Nicht mit mir. Ich hatte mir dieses grauenhafte Stück schon zu oft angehört. Ich kannte das Spielchen, in dem niemand von uns gewinnen konnte. Nun war es genug, da war nichts mehr für das es sich zu bleiben gelohnt hätte. Die Zeit war gekommen meine Reise zu beginnen. Ich floh.

»Bleib, mein Sohn. Räche deine Mutter und deinen Bruder!« Es gab nicht einen Tag, an dem ich nicht voller Schmerz an die Worte meines Vaters dachte. Das letzte was er zu mir gesagt hatte, bevor ich ihm den Rücken kehrte, war so voller Hass zerfressen, dass er die Sicherheit seines einzigen noch lebenden Kindes vergessen hatte. Er war kein schlechter Mensch – im Gegenteil! Er war immer so lebensfroh und unbeschwert gewesen. Es brach mir das Herz zu sehen, was der Krieg mit ihm anstellte. Tief im Innern war er bereits gestorben. Ich floh, verließ meine zerstörte Heimat, mein Zuhause. Doch der Tod verließ mich noch lange nicht. Als wir es endlich auf das Schiff geschafft hatten und uns schon weit weg von unserer von Krieg und Tod zerfressenen Heimat befanden kenterte unser Schiff. Nach endlosen Meilen auf einem schäbigen Kahn, zusammengepfercht mit Fremden, die im Laufe der Zeit zu Bekannten und einige wenige zu Freunden wurden, zerschellte unser Schiff wegen eines Sturmes nur wenige Meilen vor dem sicheren Hafen an den Felsen eines herausstehenden Riffs. Die neuen Bekannte und Freunde zerschellten entweder mit den Trümmerteilen an den scharfen Felsen, oder ertranken in dem eiskalten Wasser. 

Ich sah Männer, Frauen und Kinder über Bord gehen und in der Dunkelheit verschwinden. Das Meer wurde zur Todesfalle statt zum Weg ins Paradies. Eines der Trümmer verletzte mich an der Brust und nahm mir jegliche Kraft. Ich stürzte ins Wasser und sank wie gelähmt nach unten. Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen: Es war eine eisige dunkle Nacht. Kein Mond stand am Himmel, kein Stern erhellte die Nacht. Nur Finsternis um uns herum. Angst erfüllte mein Herz, als mich die salzige Dunkelheit umfing und bei dem Versuch etwas zu sehen in meinen Augen brannte. Unter meinen Füßen lauerte ein gigantischer, stockfinsterer Dämon, der mich zu sich hinab zog. 

Da packte mich eine entkräftete Hand und zog mich mit allerletzter Kraft an die Oberfläche zurück. Benebelt blickte ich in das Gesicht eines neu gefundenen Freundes. Das Salzwasser brannte überall auf meiner Haut und in meinen Wunden. Von meinen Lungen ganz zu schweigen. Auf einem schwimmenden Stück Treibgut harrten wir aus, zusammen mit ein paar wenigen. Die überlebenden Kinder hatten Vorrang. Ich versuchte trotz meiner Verletzung niemandem zur Last zu fallen. Eine gefühlte Ewigkeit trieben wir hilflos herum. Die Angst war mein ständiger Begleiter. Dieses dunkle, tiefe Meer verbarg endlose schreckliche Geheimnisse vor mir. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, was plötzlich alles unter mir auftauchen könnte. Dann, endlich, kam die ersehnte Rettung. Wir waren alle kurz vorm Erfrieren. Das Rettungsboot war das schönste, was ich seit meiner Flucht gesehen hatte. Sie holten uns an Bord, trockneten und wärmten uns. Gaben uns zu Essen und zu trinken und brachten uns ans Festland. An unser angestrebtes Ziel. Und dann sah ich es. 

Eine komplett andere Kultur, Bauweise, Traditionen und vieles mehr. Es war überwältigend! Voller Erleichterung und Freude fielen wir uns in die Arme, trotz der Verluste, die wir erlitten hatten. Doch es war noch nicht vorbei. Sie schickten uns in Zügen durchs Land. Schoben uns von einem Ort zum nächsten. Mein Freund und ich wurden getrennt, so war ich wieder alleine. Ich kam an einem kleinen Dorf an, ähnlich wie das in dem ich gelebt hatte, bevor es der Krieg erreichte – und zerstörte. Es war ein schönes Plätzchen, doch die Menschen dort schienen sehr distanziert, abweisend und … ängstlich. Sie wollten mich und die anderen Flüchtlinge dort nicht haben. Sie wollten nicht, dass jemand ihren Frieden störte. So wurde ich weitergeschoben. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben in diesem Land eine neue Heimat finden zu können. Der Kontakt zu meinem alten Leben war unmöglich wiederherzustellen. Ich fragte mich oft wie es meinem Vater wohl ergangen war.
Der Zug hielt, die Türen öffneten sich, ich wurde hinausgeschickt. Da stand ich, inmitten einer riesigen Stadt. Alleine. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Verloren, einfach verloren. Ein Flüchtlingshelfer kam auf mich zu und versuchte herauszufinden, welche Sprache die meine sei. Danach brachte er mich zusammen mit anderen noch durch ein paar Bürokratie-Stellen und schließlich fand ich mich in einer renovier bedürftigen Unterkunft wieder. Viele Flüchtlinge – und keiner sprach meine Sprache. Die Zeit verging, ich fand sogar Arbeit in einem Café gegenüber dem Stadtpark. Allerdings mit so wenig Kundenkontakt, wie möglich. Tee und Kaffee kochen, Snacks vorbereiten. Das waren meine Aufgaben. 

Nach Feierabend ging ich oft in den Park. Ein kleines grünes Fleckchen in Mitten einer dunkelgrauen Stahl und Betonwelt. In diesem Grün schien alles so friedlich. Kinder spielten, Paare trafen sich, doch in meinem Kopf war der Frieden weit entfernt. Neben dem Krieg und dem Tod musste ich Platz für die Sprache dieses Landes schaffen. So las ich mir die Vokabeln aus meinem Wörterbuch immer und immer wieder laut vor. »Hei…Hei-im…« Eine Welle von Verzweiflung brach über mich hinein. Ich würde das nie können! Das war auch nicht mein Zuhause! Was wollte ich hier überhaupt? Ich hätte nie weggehen sollen. Ich hätte kämpfen sollen! 

»Heimat.«

Verwundert schaute ich nach der Stimme, die mich aus den Gedanken riss. Vor mir stand eine junge Frau, langes blondes Haar, kristallblaue Augen. Ich hatte sowieso schon nicht so häufig mit Frauen gesprochen, und dann stand plötzlich sie da. »Heimat«, wiederholte sie und lächelte sanft. Bei dem Lächeln wurden meine Knie weich, zum Glück saß ich auf der Parkbank. »Heimat…« wiederholte ich, unsicher wie ich war. Die Frau deutete sich neben mich zu setzen. Ich nickte und machte ihr mehr Platz – auch wenn es sicher nicht nötig gewesen wäre. Sie warf einen Blick in mein Wörterbuch und kicherte. Was so lustig daran war verstand ich nicht. Jedoch war es besser als die ganze Abneigung und Angst, die ich sonst zu spüren bekommen hatte. Sie zeigte nichts dergleichen. Im Gegenteil. Wir begannen und zu unterhalten. Nun ja, genaugenommen riss sie mich regelrecht in die Unterhaltung rein, aber es war angenehm. Nachdem sie ein paar Minuten mit mir geredet hatte nahm sie mich bei der Hand, sagte irgendwas mit »Beste Übung ist Praxis« und zog mich mit sich. 

Diese fremde Stadt wurde plötzlich zu einer interessanten Stadt, voller kleiner Geheimnisse und Geschichten. Dort gab es viele schöne Orte zu entdecken. Zum Beispiel eine Statue, errichtet zu Ehren eines eigentlich unbedeutenden Mannes, der große Taten zum Wohl seiner Familie vollbrachte. Sie zu sehen machte mich traurig. Hatte ich meine Familie verraten? Wozu bin ich davongelaufen? Es war doch nur mein eigener Egoismus. Die junge Frau musste bemerkt haben, dass sich meine Laune schlagartig verschlechtert hatte, sie nahm meine Hand und zog mich weg von dem Denkmal. Weiter ging es in ein Kino. Natürlich kannte ich das damals. Ich kam aus einem Kriegsgebiet, nicht aber vom Rand der Zivilisation. Doch zugegeben: So eine große Leinwand gab es bei uns nicht. Selbstverständlich zog sie mich in einen schnulzigen Liebesfilm. Der Film war grauenhaft, aber er gab mir Ablenkung und lenkte meine Gedanken in eine schönere Richtung. Nicht auf die Familie, die ich verloren hatte, sondern auf die Familie, die ich noch bekommen würde. Danach ging es weiter, und weiter. Bis schließlich der Mond die Sonne vollständig vertrieben hatte. Das war der schönste Tag meines Lebens. 

Von da an trafen wir uns fast täglich im Park, ich offenbarte ihr immer mehr von mir und meiner Geschichte. Im Gegenzug erfuhr ich immer mehr von ihr. Das Aufstehen morgens machte mir plötzlich nichts mehr aus, denn ich hatte jeden Tag etwas, auf das ich mich freuen konnte. Sogar die Arbeit begann mir Spaß zu machen. Ich wusste ich machte einen verdammt guten Kaffee. Das wichtigste aber war, dass er auch ihr schmeckte. Und das tat er. Die Monate vergingen, ich sah die Stadt und mein neues Leben jetzt mit anderen Augen. Von meinem Vater hatte ich noch immer nichts gehört, doch wusste ich nicht, wie ich darüber denken sollte. Ich würde nicht noch einmal zurückgehen. Dafür hatte ich zu viel gewonnen. »Wenn du deine Heimat gefunden hast, darfst du sie niemals verlassen.« Das waren die Worte meines Vaters. Er hatte sie immer gesagt, als ich noch ein kleiner Junge war. Ihre Bedeutung habe ich nie verstanden.

In letzter Zeit dachte ich viel über sie nach. Wieso fiel es mir dann so unglaublich schwer wieder zurück zu gehen? Wieso waren meine Gefühle nicht mehr an dieses Stück Land gebunden? Oder an das, was ich dort zurückgelassen hatte? An einem schönen Sommertag lagen wir nebeneinander im Gras. Vor der Parkbank, an der wir uns kennengelernt hatten. Ich schaute in die vorbeiziehenden Wolken und plötzlich wurde mir alles klar. »Wenn du deine Heimat gefunden hast, darfst du sie niemals verlassen.« So hallte seine sanfte Stimme in meinem Kopf wieder. Sie legte ihren Kopf zu mir auf die Seite und fragte nur: »Heimat?« Ich nahm ihre Hand und antwortete: »Du.«
Wie hat euch die Geschichte gefallen?

2 Kommentare:

  1. Wow, dein Kumpel hat einen beeindruckenden Schreibstil! Sehr bildlich und packend.
    Wie schön, dass du ihn so unterstützt - ihn zum Mitmachen motivierst und seine Geschichte mit uns teilst!
    Er soll aufjedenfall weiterschreiben! Und ich würde mich sehr freuen auch mal eine Geschichte von dir zu lesen :)
    Liebst,
    Pia
    vielleicht wird alles vielleichter

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  2. Haha, das kenne ich. So langsam wird man für die ersten Dinge doch echt glatt zu alt. ;)
    Aber schön, dass du deinen Freund motivieren konntest bei so etwas mitzumachen! Schreiben kann er ja, aber manchmal fehlt den Kreativen auch ein bisschen der Mut (oder ein Tritt in den Hintern ;)).

    Ich weiß sehr gut was du meinst; ich habe mich damit auch viel beschäftig und generell viel an mir gearbeitet was das angeht. Umso mehr erstaunt es einen, wenn man manchmal gegen solche Ängste auch gar nichts machen kann und sie einen schlicht und ergreifend überrollen...
    Mittlerweile geht es natürlich schon wieder!

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